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Die Schule bleibt im Gerede - nach der Diskussion um "Verhaltensvereinbarungen" nun eine Diskussion um die Wiedereinführung von Aufnahmsprüfungen (oder eines "Prognoseverfahrens") an Allgemeinbildenden Höheren Schulen. Sinnvolle Massnahmen oder einfach Ausdruck eines Kontrollzwanges? Nachstehend finden sie Medienberichte zu diesem Thema: Martina Salomon versucht, Sachlichkeit in der Diskussion einzufordern, Karl Heinz Gruber, Professor am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Wien, bringt Ergebnisse wissenschaftlicher Untersuchungen ein und Josef Broukal berichtet aus eigener Erfahrung.

 

Numerus clausus für Kinder

Über Probleme im Schulwesen wird nie umfassend und seriös diskutiert

von Martina Salomon

 

Soll es einen Numerus clausus für Volksschüler geben, die in die AHS wechseln wollen? Die Koalitionsparteien stellen sich etwas Ähnliches vor, auch wenn es als größeres Aufnahmeverfahren schöngeredet wird. Und wie immer in Sachen Schulpolitik teilt sich das Land reflexartig in Rot(-Grün) und Schwarz(-Blau):Die einen lehnen kategorisch alles ab, was nach Leistungskriterien riecht. Die anderen schäumen über niveausenkende Streichelpädagogik. Faktum ist: Es gibt Probleme, aber keine Patentrezepte im Schulwesen. Auf dem Land geht die Mehrheit der Kinder in die Hauptschule. In den städtischen Ballungsgebieten, insbesondere in Wien, ist hingegen die AHS zunehmend zur Einheitsschule geworden.

Die Hauptschule gilt als deklassiert und als Hort der unteren sozialen Schichten (inklusive hohem Anteil von Kindern nicht deutscher Muttersprache). Diesem schlechten Image haben die Hauptschulen - teils erfolgreich - inhaltliche Schwerpunktbildung entgegengesetzt. Außerdem hat die Wiener Stadtpolitik mit ein wenig Brimborium und einer Umbenennung am Image einiger Hauptschulen poliert, die sich jetzt "kooperative Mittelschule" nennen dürfen. Das klingt für Eltern und Kinder akzeptabler.

Trotzdem müssen immer mehr Hauptschulen schließen. Ausbildung dort plus Lehre gilt in Wien als unattraktiv. Der Nachwuchsmangel in diesem Bereich ist bereits spürbar. Eine brauchbare Alternative - handwerkliche Ausbildung plus Matura - wird lediglich zwei Privatschulen in Salzburg und Wien überlassen. Politische Diskussion gibt es über dieses Modell erstaunlicherweise keine.

Dafür hat man in den letzten Jahren in Kauf genommen, dass es viele Wiener Gymnasiasten gibt, die in keiner AHS auf demLand eine Chance gehabt hätten. Das hat den Privatschulen mit strengem Ruf plötzlich ein neues Feld eröffnet: Sie gelten als Zukunftsinvestition in die Kinder, weil es dort angeblich eine "bessere Matura" gibt. Firmen werden in Zukunft wahrscheinlich fragen, wo der Jobanwärter maturiert hat. Somit hat trotz des vordergründig egalitären Systems längst jene soziale Selektion eingesetzt, die die SPÖ zu Recht befürchtet.

Dass diese Schieflage mit einem punktuellen Aufnahmeverfahren wieder ins Lot gebracht werden könnte, ist jedoch kaum zu erwarten. Selbst manche ÖVP-Politiker meinen hinter vorgehaltener Hand, dass eine Selektion schon im zehnten Lebensjahr zu früh sei und die ersten sechs Schulstufen gemeinsam verbracht werden sollten.

Außerdem haben diverse Aufnahmeverfahren mehrere Haken: Da Volksschüler üblicherweise alle vier Schuljahre vom selben Lehrer unterrichtet werden, wären Kinder mit den besseren Pädagogen oder - geht es streng nach Zeugnis - mit den gütigeren Benotern klar bevorzugt. Abgesehen davon würde sich die soziale Schere weiter öffnen: Bei einem weiteren Testverfahren sind Kinder von gebildeten Eltern, die auch sonst daheim brav die Referate ihrer Sprösslinge schreiben und mit Ihnen Schularbeitsstoff pauken, wieder im Vorteil. Und wie soll ein Prognoseverfahren eigentlich aussehen, das über die jetzt schon vorhandene Beurteilung des Volksschullehrers hinausgeht? Vielleicht ein Assessmentcenter für jeden künftigen AHS-Schüler?

Natürlich wäre es längst sinnvoll gewesen, ins Schulwesen standardisierte Tests einzubauen, damit jeder Schüler und jeder Lehrer zumindest gelegentlich überprüfen kann, wo man leistungsmäßig im Vergleich steht. Doch als vor drei Jahren den Volksschulen ein derartiger Lesetest zur Verfügung gestellt wurde, sah vor allem die SPÖ rot. Von "Amoklauf" und "mittelalterlich" war da die Rede. Die Bildungsministerin bekam offensichtlich weiche Knie und führte eine Schmalspurvariante ein: Auf freiwilliger Basis können seither die Schulen den Lesetest ordern.

Fazit: Hier und dort an der Schraube zu drehen bringt das Schulwesen nicht weiter - genauso wenig wie die üblichen reflexartigen Reaktionen.

 

 

Aufnahmsprüfung als Unikum

Wortmeldung aus der Wissenschaft: Untersuchungen zeigten, dass für die Mehrheit der Kinder eine Voraussage des zukünftigen Schulerfolgs im Alter von 10 oder 11 Jahren nicht möglich ist.

von Karl Heinz Gruber

Innerhalb von 24 Stunden scheint sich die von der Regierung beabsichtigte AHS-Aufnahmsprüfung von einer gefährlichen Raupe in einen harmlosen Schmetterling verwandelt zu haben. Kündigte ÖVP-Bildungssprecher Werner Amon am Montag markig ein Instrumentarium aus Tests, Prognoseverfahren und Lehrergutachten an, "das den Zustrom zur AHS stoppen soll", beruhigte Bildungsministerin Elisabeth Gehrer am Dienstag, dass es sich bloß um eine unverbindliche "Orientierungshilfe" für Eltern handle, die bei der Suche nach der besten Schule für ihr Kind unterstützt werden sollen.

Genaueres ist fatalerweise zur Zeit nirgendwo zu erfahren. Wenn die Regierung in dieser schulpolitisch fundamentalen Frage die Wissenschaft zu Rate gezogen oder sich am europäischen Ausland orientiert hätte, würde sie folgendes festgestellt haben: Auch in den anderen europäischen Ländern stand im Zentrum der Schulreformen der letzten Jahrzehnte die Frage, wie lange die Schulkarrieren aller Kinder in einer gemeinsamen Schulform verlaufen sollten und ab wann organisatorische Differenzierung in unterschiedliche Schultypen einsetzen sollte.

Forschungsergebnisse

Die groß angelegten einschlägigen Bildungsforschungsprojekte, die in Schweden in den Fünfzigerjahren und in England und Deutschland in den Sechzigerjahren durchgeführt wurden, erbrachten durchwegs übereinstimmende Ergebnisse: Am Ende der Grundschule lässt sich zukünftiger Schulerfolg ("Maturaeignung") nicht mit der Verlässlichkeit, die von einer so wichtigen Entscheidung wie der AHS-Auslese zu fordern ist, prognostizieren: nicht durch Aufnahmsprüfungen, nicht auf der Basis von Notendurchschnitten und leider auch nicht, wie große deutsche Untersuchungen gezeigt haben, durch Grundschullehrergutachten.

Selbst die englische "Eleven plus"-Selektion für die gymnasialen Grammar Schools, seinerzeit Europas aufwändigstes Ausleseverfahren, eine Kombination von Intelligenztests, Schulleistungstests und Grundschullehrergutachten, erwies sich als unbefriedigend.

Prognose-Problem

Natürlich lassen sich am Ende der Grundschule manche besonders leistungsfähige und manche besonders leistungsschwache Kinder identifizieren, aber für die überwiegende Mehrheit der Kinder ist eine Voraussage des zukünftigen Schulerfolgs, der ja nicht bloß von "Begabung", sondern mindestens ebenso von Faktoren wie Motivation, Interessen, elterlichen Ambitionen, etc. mit beeinflusst wird, im Alter von 10 oder 11 Jahren schlicht und einfach nicht möglich. (Was der ominöse Schulversuch in Wolkersdorf gegenüber diesem riesigen internationalen Fundus an Forschung erbringen soll bzw. kann, ist schwer vorzustellen.)

Als demokratiepolitisch besonders gravierend erwies sich folgender, vielfach bestätigter Forschungsbefund: Je früher schulische Auslese erfolgt, desto stärker ist sie sozial verzerrt, das heißt, desto stärker werden Mittel- und Oberschichtkinder begünstigt und Unterschichtkinder und solche aus nicht die Landessprache sprechenden Elternhäusern benachteiligt. In den meisten Staaten Europas zog man daraus die schulorganisatorische Konsequenz der integrierten Gesamtschule bis zum Ende der Sekundarstufe I bzw. bis zum Ende der Schulpflicht.

Es ist eines der größten Handicaps der österreichischen Bildungspolitik, dass sich die ÖVP einer rationalen Auseinandersetzung über eine Gesamtschulreform der Schule der 10- bis 14-Jährigen entzieht. Angesichts des Prestiges des Gymnasiums und der mit seinem Besuch verbundenen Aufstiegs-Berechtigungen hat der Versuch der "Aufwertung" der Hauptschule bei einer immer konsumeristischer und qualitätsbewusster werdenen Elternschaft keine Chance. (Ich würde Herrn Amon gerne dabei beobachten, wie er einer Elternversammlung einer vierten Volksschulklasse im Wiener "Nobelbezirk" Hietzing, wo 80 Prozent der Kinder in die AHS übertreten, erklärt, dass ihre Kinder lieber in die Hauptschule gehen sollten.)

Wie ein viel beachtete OECD-Studie zeigte, wählen Eltern, wenn sie die Chance haben, überall die "angesehenere" Schulform. Das ist keine Geringschätzung der Hauptschulen und der guten Arbeit, die dort geleistet wird, sondern das verständliche Bestreben der Eltern, die subjektiven Bildungschancen ihrer Kinder zu optimieren.

Auf welchen Prozentsatz will die Regierung den Besuch der AHS-Unterstufe reduzieren, der im Bundesdurchschnitt zur Zeit bei etwa 30 Prozent, in Wien und anderen großen Städten allerdings bei über 50 Prozent liegt? Auf 25 Prozent? Auf 20 Prozent? Nur zum Vergleich: In Schweden und Japan besuchen etwa 95 Prozent der 18-Jährigen Vollzeitschulen bis zum Ende der Sekundaroberstufe, in Frankreich sind es mehr als zwei Drittel. In den meisten westlichen "Bildungsgesellschaften" wird eine Erhöhung der Bildungsbeteiligung in weiterführenden Schulen angestrebt. Die vierte Volksschulklasse wird angesichts der gegenwärtigen Debatte für die Lehrerschaft sehr viel konfliktträchtiger und für die Kinder viel affektgeladener und traumatischer werden.

Schwacher Trost

Den Eltern bleibt der schwache Trost, dass sie das neue Kindergeld, auf das die Regierung so stolz ist, für zusätzliche Nachhilfestunden und Psychotherapie ihrer verängstigten Sprösslinge verwenden können.

Wenn die Regierung von der Richtigkeit ihrer schwarzblauen Pädagogik überzeugt ist, dann sollte sie die Courage haben, die AHS-Aufnahmsprüfung vor der Einführung einer sogenannten "thematischen Länderprüfung" durch ein internationales Expertenteam der OECD unterziehen zu lassen, wie dies vor der Etablierung der Fachhochschulen der Fall war. Dann werden wir ja sehen....

 

 

Zur Debatte um AHS-Aufnahmsprüfungen

Ich erinnere mich lebhaft daran und spüre jedes Mal Wut in mir aufsteigen: Es ist Juni 1956, ich habe gerade die Volksschule hinter mir. Meine Mutter versucht mich in einem Gymnasium einzuschreiben. Nicht einmal zur Aufnahmsprüfung werde ich zugelassen. "Wir wollen nicht auf Sand bauen", sagt der Direktor meiner Mutter - offenbar ein kleiner Cäsar, der es in der Hand hat, Bildung zu gewähren oder auch nicht. An einer anderen Mittelschule haben wir mehr Glück - zumindest ein halbes Jahr lang, dann sorgen ein Fünfer im Zeugnis und die schlechte Prognose der Lehrer für den Wechsel an die Hauptschule. Diese verlasse ich 1960 mit einem Zeugnis, das es in sich hat: Betragen: "Befriedigend", Fleiß: "Genügend". Und dazu eine Latte von Dreiern und Vierern in den Fachgegenständen. Meine Mutter aber gibt dennoch nicht auf, und tatsächlich, es findet sich eine Realschule, die es mit mir noch einmal probieren will. Die vierte Klasse muss ich allerdings wiederholen. Prognose des Hauptschuldirektors, als er davon erfährt: "Sie werden sehen, das geht höchstens ein halbes Jahr gut." Fünf Jahre später, 1965, mache ich die Matura. "Sehr gut" in Mathematik, "Sehr gut" in Englisch, "Sehr gut" in Deutsch, "Sehr gut" in "Darstellender Geometrie". Notenschnitt über alle Fächer der 8. Klasse: 1,53. Ich kann meinen Eltern bis heute nicht genug für ihre Hartnäckigkeit danken, und dafür, dass sie den Prognosen der Lehrer keinen Glauben geschenkt haben. Hoffentlich ist das jetzt angekündigte "Prognoseverfahren" treffsicherer als das in meinen Jugendtagen...

Josef Broukal (Leserbrief an den "Standard")

© derStandard

 

Unser Kommentar: Etwas befremdlich an der Diskussion ist unter anderem, dass es meines Wissens kaum Wortmeldungen aus den Reihen der Psychologen gibt - dabei scheint mir dieses Thema - die Prognose bezüglich der Eignung für bestimmte Schulformen - geradezu klassisch in dieses Fachgebiet einzuordnen. Es ist auch schlecht vorstellbar, dass ein "Prognoseverfahren" ohne psychologische Begutachtung auskommen kann - was sonst könnte sonst beurteilt werden, als das, was sowieso bekannt ist (Schulleistungen bzw -noten nämlich) und zwar von Menschen, von denen diese Beurteilungen stammen (Lehrern nämlich). Die Beurteilung von persönlichkeitsbedingten Faktoren, die die Schulleistungen womöglich beeinträchtigen, muss dabei draussen bleiben - die machen aber oft Probleme in der Schule und damit schlechtere Beurteilungen. Also wenn "Prognoseverfahren", dann fachgerecht - aber das verursacht Kosten - und wer wird die tragen?

G. Kral/Zentrum Rodaun

 

Weitere Informationen zu diesem Themenbereich finden Sie in unserem Beiträgen

Umstrittene Rezepte gegen Störenfriede

Drohen mit und hoffen auf Schule

 


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