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Hilferufe im virtuellen Raum

 

Die Hilferufe sind selten zaghaft und leise, sondern meist eindringlich und kaum zu überhören. In zahlreichen Suizidforen und Chaträumen im Internet wird über Selbstmordgedanken und Suizidmethoden diskutiert: ohne ärztliche Begleitung und in einer direkten und schonungslosen Sprache. Ärzte und Psychiater sind sich einig, dass die Seiten für depressiv Erkrankte nicht zu unterschätzende Gefahren bergen. Sie weisen aber auch auf Chancen einiger Foren mit Selbsthilfegruppen-Charakter hin.

 

Rund 10 bis 20 Suizidforen werden Schätzungen zufolge in Deutschland betrieben. Betreut werden die Websites von Laien, die meist anonym bleiben und ihre Seiten häufig über ausländische Server ins Netz stellen. Unter anderem werden Anleitungen zum Selbstmord geboten, Verabredungen zum geplanten Suizid getroffen oder Abschiedsbriefe veröffentlicht.

Gefährlich mache diese Foren aber vor allem die Art, wie über den Freitod kommuniziert wird, sagt Professor Ulrich Hegerl von der Psychiatrischen Klinik der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) in München. So werde Suizid häufig dargestellt, als wäre die Entscheidung, aus dem Leben zu scheiden, eine vollkommen freie. "Doch der Freitod als freie Willensentscheidung existiert nur in Romanen und nicht im wirklichen Leben", sagt Hegerl. Selbsttötungen geschähen in mehr als 90 Prozent der Fälle bei einer ernsthaften psychischen Erkrankung wie Depression, Schizophrenie oder auch Sucht. In den Foren werden diese medizinischen Aspekte aber meist ignoriert.

Subkultur Internetforen

Tatsächlich wollen sich viele Forenbesucher gerade von Ärzten und Psychiatern abgrenzen. So sehen viele die Foren und Chats als einzige Möglichkeit, sich ohne Angst vor Unverständnis, Stigmatisierung oder ärztlichem Einschreiten über Selbstmord zu unterhalten. "Die Nutzer der Foren sind regelrecht eine verschworene Gemeinschaft", sagt Hegerl. "Es lassen sich Subkultur-ähnliche Merkmale beobachten."

Gerade dies birgt weitere Gefahren: "Im kleinen Zirkel dieser Gruppen wird der Selbstmord mystifiziert und jegliche Hilfe von außen abgewehrt", hat Professor Thomas Bronisch vom Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München beobachtet. So könnten bekannte Kultfiguren, die durch Suizid verstorben sind -- wie der Leadsänger der amerikanischen Band Nirvana Curt Cobain -- als Vorbild genommen werden. Der Suizid könne als erstrebenswerte Lösung stilisiert und etwa durch Aufforderungen oder Verabredungen leicht gemacht werden.

Auch der Werther-Effekt, also die Gefahr der Nachahmung, spiele eine Rolle. Hinzu komme der Gruppenzwang. Das Phänomen ist nicht auf Deutschland beschränkt, wie der Fall einer 17 Jahre alten Österreicherin und eines 24-jährigen Norwegers zeigt, der vor etwa zwei Jahren für Schlagzeilen sorgte. Sie hatten sich online zu ihrem Todes-Rendezvous in Südnorwegen verabredet und sprangen gemeinsam von einer Klippe. Die beiden Selbstmörder verursachten ein gehöriges Medienaufsehen. Ebenfalls im Jahr 2000 erschoss sich Markus B. aus Vorarlberg, nachdem er im Internet seine Vorbereitungen minutiös geschildert hatte. Vergangenen Herbst verabredeten sich fünf Jugendliche zum gemeinsamen Tod unter den Rädern eines norwegischen Zuges. Als eine 18-jährige Berlinerin aus diesem "Projekt" ausstieg, verurteilte ihre Chat-Freundin sie im Abschiedsbrief: "Jetzt hast auch Du mich noch allein gelassen."

Selbstmord selten Frei-Tod

Die konkreten Anleitungen zum Selbstmord sorgen dabei meist für die größte Entrüstung bei Nichtbetroffenen. "Für viele depressiv Erkrankte kann gerade während depressiver Episoden das Wissen über Suizidmethoden ausschlaggebend für die Entscheidung zum Selbstmord sein", sagt Hegerl. Georg Fiedler vom Therapie-Zentrum für Suizidgefährdete (TZS) des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) sieht das etwas differenzierter: "Wer sich selbst töten möchte, findet ohnehin genügend Anleitungen auf anderen Internetseiten. In Suizidforen ist das eigentliche Thema das Überleben mit der Selbstmordneigung." Der Austausch von Suizidgedanken könne dann auch eine stabilisierende Wirkung haben. Das Medium biete zudem die Chance, anonym mit Gleichgesinnten Ängste und Sorgen auszutauschen, ergänzt Thomas Bronisch.

Ein Verbot der Seiten ist letztlich juristisch schwierig, schließlich stellt Suizid keinen Straftatbestand dar. Außerdem stehen die Server der Foren häufig im Ausland. Durch gezielte Aufklärung und Hilfestellung für Jugendliche kann Bronisch zufolge ohnehin mehr erreicht werden. Psychologe Fiedler sieht das ähnlich: "Man sollte sich weniger fragen, wie diese Foren verboten werden können, als vielmehr, warum es ein so starkes Interesse für diese Seiten gibt." Dies zeige vor allem die Hilflosigkeit der Gesellschaft im Umgang mit dem Thema Suizid. Viele Forenbesucher würden keine andere Möglichkeit sehen, über das Tabuthema zu kommunizieren.

Angehörige von Suizidgefährdeten sollten daher ein Gespür für die Gefahren entwickeln und versuchen, die Sprachlosigkeit zu überbrücken. "Für Eltern ist dies jedoch meist besonders schwierig, da die Beziehung zu den Eltern selbst oft eine Rolle bei den Suizidgedanken des Kindes spielt", betont Fiedler. Notwendig sei es dann, professionelle Hilfe wie Ärzte, Beratungsstellen oder Psychiater in Anspruch zu nehmen.

Der virtuelle Raum als Chance

In einer Gesellschaft, in der psychische Störungen noch immer ein Tabu-Thema sind, sehen die Forscher im Internet jedoch auch ein wichtiges Kommunikationsmittel für Betroffene. Laut einer Umfrage der LMU nutzen etwa 40% der psychiatrischen Patienten das Internet - nach Ansicht der Ärzte eine gute Möglichkeit, Patienten über ihre Erkrankung aufzuklären. Einige Psychologen bieten deshalb ihre Hilfe direkt in den Foren an. "Wir holen die Jugendlichen dort ab, wo sie sind", erklärt Volker Tepp, Geschäftsführer des Vereins Beratung und Lebenshilfe. "Selbst wenn wir uns als Psychologen zu erkennen geben, nehmen viele Jugendliche unsere Hilfsangebote an."

Auf den Weg aus der Düsternis brachte beispielsweise eine Therapeutin aus Brandenburg eine 20-Jährige, die im Suizid-Chat darüber diskutierte, mit welcher Geschwindigkeit sie am besten mit dem Auto gegen einen Baum fahren müsse. "Ich mailte ihr, ich könne ihr zwar nicht beim Sterben helfen, bot ihr aber eine Beratung in unserem Chatroom an", berichtet Culemann. "Wir standen ein halbes Jahr per E-Mail in Kontakt, dann bat sie mich um die Vermittlung eines persönlichen Therapeuten." Vor einigen Wochen erhielt die Psychologin eine kurze Mail: "Vielen Dank, dass Sie mir beim Leben geholfen haben."

Seriöse Online-Hilfe ist gefragt

Vor diesem Hintergrund betreibt das Kompetenznetz Depression seit knapp einem Jahr ein Online-Diskussionsforum für psychisch kranke Menschen, das von einem Facharzt moderiert wird. Die Homepage www.kompetenznetz-depression.de des Forschungprojektes wird täglich von mehr als 1.000 Nutzern aufgerufen. Beiträge mit todesverherrlichenden Inhalten werden gelöscht, versichert Hegerl, der das Projekt betreut. Sind die Experten der Meinung, einer der Teilnehmer sei suizidgefährdet, versuchen sie ihn zu einem Arztbesuch zu bewegen. Im Extremfall können die Psychiater den Selbstmordkandidaten von der Polizei ausfindig machen lassen und einen direkten Kontakt herstellen.

Professionelle Angebote, wie das Online-Diskussionsforum des Kompetenznetzes Depression, müssten nach Ansicht Hegerls weiter ausgebaut werden. Das von LMU-Psychiater Hegerl betreute Forschungsprojekt Kompetenznetz Depression, Suizidalität bietet alternativ ein von einem Facharzt betreutes Forum an. In besonderen Gefahrensituationen werden Ratschläge per E-Mail gesendet oder der Kontakt zu einem Arzt hergestellt. Bedenkliche Beiträge werden von der Internetseite entfernt. Ob dieses Forum tatsächlich die Besucher der Suizidforen erreicht, bleibt jedoch fraglich

Australische Studie: Rechte Regierungen lassen Selbstmorde steigen

Zu diesem Ergebnis sind Studien aus England und Australien gekommen, berichtet das Wissenschaftsmagazin New Scientist. Die Wissenschaftler haben die Suizidraten beider Länder im 20. Jahrhundert miteinander verglichen.

Konservative, rechte Regierungen, die mit einer "Der Gewinner bekommt alles"-Attitüde auftreten, führen zu höheren Selbstmordraten, heißt es in den Studien. Hinzu kommen große Unterschiede beim Einkommen, die die Situation der Hoffnungslosigkeit noch verschärfen, berichtet Mary Shaw mit ihrem Forscherteam von der University of Bristol. "Wenn jemand unter einer solchen Ideologie versagt, dann wird das Gefühl des Versagens noch stärker akzentuiert", so die Forscherin. Regierungen, die links der Mitte angesiedelt sind, verstärken hingegen das Gefühl der Gemeinschaft und der Zusammengehörigkeit. Allein in Großbritannien gab es unter konservativen Regierungen 35.000 mehr Selbstmorde als unter den Labour-Regierungen. Das bedeutet, pro Regierungstag der Konservativen gab es täglich einen Selbstmordfall mehr als unter der Labour-Regierung, schreibt die Forscherin im Wissenschaftsmagazin "Journal of Epidemiology and Community Health". Das heißt, dass die Selbstmordrate unter rechtskonservativen Regierungen um 17 Prozent höher war.

Zu ähnlichen Ergebnissen ist auch eine australische Untersuchung gekommen, die von Richard Taylor von der School for Public Health der Universität von Sydney durchgeführt wurde. Während Rechtskonservative an der Macht sind, tendieren um 17 Prozent mehr Männer und um 40 Prozent mehr Frauen zum Selbstmord. Nach dem Report war die Selbstmordrate am höchsten, wenn sowohl die Bundes- als auch die Landesregierung rechtskonservativ waren. Beide Studien berücksichtigten sowohl ökonomische Hintergründe als auch die Ära während des 2. Weltkrieges.

Trotzdem war aus beiden Studien ein gemeinsamer Nenner herauszulesen, berichtet New Scientist. Die Selbstmordraten in Zeiten, die von den Politikern als "Ihr-habt-es-noch-nie-so-gut-gehabt" umschrieben wurden, waren am höchsten. In Großbritannien war das während der Regierungszeit des Konservativen Harold MacMillan zwischen 1961 und 1965 der Fall. Im Vergleich dazu gab es die niedrigste Selbstmordrate während der Labour-Regierung von David Lloyd George (1916-1920). Das gleiche Bild spiegelt sich auch später wider: unter Maggie Thatcher (1981-1990) waren die Selbstmordraten wesentlich höher als unter Tony Blair.

Shaw gibt in ihrer Untersuchung zu, dass die politischen Ideologien hinter den Selbstmordraten pure Spekulationen sind, dennoch findet die Wissenschaftler den Anstieg der Suizidraten unter den konservativen und rechten Regierungen auffällig. Eine Studie, die im Juli 2001 in den USA durchgeführt wurde, ergab, dass Republikaner drei Mal häufiger unter Albträumen leiden als Demokraten. Darauf meinte ein republikanischer Sprecher gegenüber New Scientist, dass dies daher komme, weil man das Durcheinander nach acht Jahren Bill Clinton wegräumen müsse.

Quellen: c't - newsticker, med-online, pressetext.austria

 

Unser Kommentar: Meldungen wie die oben genannten über Selbstmord - Foren sind spektakulär und natürlich auch geeignet, Vorurteilen dem Medium Internet gegenüber, die es zweifellos gibt, neue Nahrung zu geben. Dennoch gibt es Selbstmord - Foren, kein Zweifel. Die andere Seite ist, dass es auch viele Foren mit viel gegenseitiger Hilfe, Stützung und positiver Kraft gibt - die sind halt weniger spektakulär. In einer wissenschaftlichen Untersuchung hatte ich Gelegenheit, eine derartige Community zu studieren: die Mitglieder kennen einander sehr gut, obwohl die meisten sich noch nie gesehen haben, und es ist fast immer jemand (online) da, der/die hilft, tröstet, unterstützt, ..... wenn es nötig ist - und das zumeist innerhalb von 10, 15 Minuten.... Ich würde sagen, die Menschen, denen via Internet geholfen wurde, sind um ein Vielfaches zahlreicher als diejenigen, denen womöglich geschadet wurde - aber verhinderte Selbstmorde lassen sich weniger gut zählen.

G. Kral/Zentrum Rodaun

 

Literatur zum Thema:

Karin Jäckel: Furcht vor dem Leben. Wenn Jugendliche den Tod als einzigen Ausweg sehen. Bestellmöglichkeit bei amazon.at!

 

Weitere Informationen zu diesem Themenbereich finden Sie in unserem Beitrag

Schatten auf der Kinderseele

 

 

 


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