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Pokémons: Wenn Kinder über sie reden, reden sie auch über sich selbst

von Dorothea Steinlechner-Oberläuter




Nach Diddle-Mouse und Teletubbies hat die Spielzeugindustrie ihren nächsten Treffer gelandet: Pokémons. Kaum ein Kind der Altersgruppe der 6- bis 12-Jährigen, das nicht die stets ausverkauften Pokémonaufkleber sammelt oder regelmäßiger Zuschauer der vielfolgigen Fernsehserie ist. Anders als bei den naiven, harmoniesüchtigen und bis zur Karikatur herzigen Teletubbies bewegen sich die Pokémons in einem Universum von Kampf und Vernichtung und gehen grundlos mit ausgeklügelten und bösartigen Attacken aufeinander los. Was stimmt mit unseren Kindern nicht, dass sie von aggressiven Kampfmonstern derart fasziniert sind?

Fünf Funktionen des Pokémonkults lassen sich für die kindlichen Entwicklungsaufgaben ausmachen:

1. Die Funktion der Abgrenzung:

Es stärkt Kinder, wenn sie miteinander ein Wissen um eine Fantasiewelt teilen, von der die Erwachsenen in der Regel keine Ahnung haben und die Namen der Kultfiguren noch nicht einmal richtig aussprechen können. Die Beziehungen der Kinder zueinander werden gestärkt und aufgewertet.

2. Die psychohygienische Funktion:

Beim Betrachten der Bilder - allein oder gemeinsam mit anderen - können Kinder fantasieren. Sie können sich spielerisch mit Fragen von Größe, Stärke, Beliebtheit, Schönheit, Kampf, Rivalität, Freundschaft, Treue und Verrat auseinander setzen - Themen, die spätestens ab dem Schulalter für das Selbstbild relevant sind. So wird sich beispielsweise ein etwas klein geratener Bub durch die Identifikation mit Kicklee, dessen Beine beim Laufen länger und länger werden und der jedes Rennen gewinnt, einen Schuss Selbstvertrauen holen können; oder ein anderer wird sich manchmal wünschen, Pikachu zu sein, der trotz unscheinbarem Äußeren sich seinen Feinden mit Blitz- und Donnerschlägen nähert.

3. Die kommunikative Funktion:

Die Kinder reden sehr gerne und unbefangen über ihr jeweiliges Lieblingspokémon, so dass man ganz plakativ sagen kann: Wenn Kinder über Pokémons reden, dann reden sie auch über sich. Für den Bereich der Pädagogik oder der Therapie bieten sich hier zahlreiche Ansatzpunkte, um etwas über die aktuellen Themen und Konfliktpunkte eines Kindes zu erfahren. Gleichzeitig machen die Kinder die Erfahrung, dass offensichtlich auch die Freunde von jenen inneren Themen bewegt sind, die durch die Pokémons repräsentiert werden, und sie somit nicht alleine dastehen mit ihren inneren Konflikten.

4. Bedeutung für die kognitive Entwicklung:

Die altersentsprechende Freude am Ausprobieren der intellektuellen Funktion führt zu unermüdlichem Kategorisieren, Auswendiglernen, Einordnen und Vergleichen, und dies stärkt seinerseits wieder Kognition und Gedächtnis.

5. Bedeutung als Projektionsfläche:

Wie das noch schwache kindliche Ich haben die Pokémons allesamt eine sehr geringe Frustrationstoleranz, abrupte Affektwandlungen und Wutausbrüche. Sie oder die sie begleitenden kindlichen Helden der Geschichte müssen sich ohne Hilfe von Erwachsenen in einer feindlichen Umwelt durchschlagen. Kindliche Allmachts- und Ohnmachtsgefühle, Teil jeder noch so liebevoll begleiteten Entwicklung, finden in den Pokémongeschichten von Verfolgung, Angst und Kampf eine geeignete Projektionsfläche. Sie werden verschlüsselt kommunizierbar und rücken so der Bewältigung ein Stück näher.
Es lassen sich auf individueller Ebene also durchaus positive Effekte der Pokémons für die kindliche Entwicklung entdecken.

Weit düsterer aber fält das Urteil aus, wenn man die Pokémonbilder als Spiegel für die Möglichkeiten der Aggressionsverarbeitung in unserer Gesellschaft begreift: In der Welt der Pokémons sind ausschließlich die Kategorien Herrschaft und Unterordnung denkbar. Sieg heißt Vernichtung des anderen, Niederlage heißt eigener Untergang. Charakteristisch ist die Sprachlosigkeit: Gegen vermeintliches oder reales Unrecht wird nicht durch Verhandlung oder Worte eingeschritten, sondern sofort mit Vernichtungsaggression. Es gibt nur das Alles-oder-nichsts-Prinzip, das "Wenn du nicht für mich bist, bist du gegen mich", es gibt nur das ganz Gute und das ganz Böse.

Was fehlt, sind tragfähige Modelle für ein Miteinander trotz Verschiedenheit; für die Wahrung der eigenen Identität in Verbundenhet mit anderen; für eine Selbstliebe, die im Wissen um die eigenen Stärken und Schwächen verankert ist und nicht auf permanente Bestätigung von außen angewiesen ist; für eine Form aggressiver Durchsetzung, die mit Respekt vor der Integrität des anderen einhergeht Dafür gibt es im Pokémonuniversum keine Vorbilder. Angesichts der hohen Aggressionsbereitschaft und geringen Integrationsfähigkeit unserer Gesellschaft wären jedoch gerade solche Modelle gefragt - nicht nur für unsere Kinder.

© Psychologie Heute



Unser Kommentar: Jenseits alles Marketing ist der Erfolg von Pokémon tatsächlich frappierend; mit Herausgabe der "goldenen" und der "silbernen Edition" wurde soeben der nächste Coup gelandet. Meiner Meinung nach kann das nur dann eintreten, wenn Wünsche und Bedürfnisse der Kinder punktgenau getroffen werden, einige Aspekte werden in obigem Artikel wie auch schon in Serge Tisserons Beitrag (siehe unten) schön herausgearbeitet.

In gewisser Weise ähnelt Pokémon verschiedenen Arten von Rollenspielen, sei es solchen, die mit Karten gespielt werden oder Rollenspielen im Cyberspace, wie etwa MUDs. Pokémon ist wahrscheinlich so etwas wie die "Kindergartenversion" davon, mit dem (allerdings wesentlichen) Unterschied, daß keine neuen Charaktere geschaffen werden können. Auch die von Tisseron beschriebene Wahlfreiheit der Identifikation ist ein den "Identitätslabors" MUDs ähnliches feature.

Spannend auch der in Punkt 1 beschriebene Effekt der de-facto-Ausgeschlossenheit der Erwachsenen, ein Phänomen, das im Bereich der Neuen Medien keine Seltenheit ist. Zu diesem Punkt sei auch nochmals auf das sehr empfehlenswerte Buch "Computer machen Kinder schlau" von Wolfgang Bergmann (siehe unten) verwiesen. Auch Sherry Turkle entwirft in dem von uns wiedergegeben Interview ein interessantes Bild der "Erziehung im Cyberzeitalter" (siehe unten).

G. Kral/Zentrum Rodaun

 

Weitere Informationen zu diesem Themenbereich finden Sie in unseren Beiträgen

Erziehung im Cyberzeitalter

Taschenmonster, eine kindliche Leidenschaft

Monstermanie - "Pokémon? ist das erfolgreichste Videospiel aller Zeiten

Machen Computer Kinder schlau?

 

 


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