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Eskapismus revisited

von Konrad Lischka

 

Neue Spiele, alte Fragen: Millionen Internetuser nehmen weltweit auf den Homepages von "Lineage", "Everquest" oder "Majestic" an Kämpfen in Fantasywelten teil oder versuchen, nervenzerfetzende Verschwörungsrätsel zu lösen - ein klarer Fall von Realitätsflucht? Aber: Was ist die Realität eines Onlinerollenspiels?

 

Fünf Männer sprangen aus der schwarzen Limousine und stürmten in das Internetcafé in Seoul. "Ist der Magier hier?", rief einer. Er meinte den Spieler, der vor kurzem im Onlinerollenspiel Lineage: The Blood Pledge seinen Spielcharakter getötet hatte. Stolz bekannte der 21-jährige Paek Jung Yul sich sofort zu seiner Tat. Die Männer zerrten ihn in die Toilette des Cafés und schlugen ihn dort zusammen.

Mit dieser Gruselgeschichte beginnt das US- Magazin Time einen Artikel über Lineage, das zurzeit weltweit erfolgreichste Onlinerollenspiel. Zwei Millionen Spieler in Korea, Hongkong, Japan und Taiwan haben es abonniert. Vergleichbare Angebote in den USA und Europa haben weniger Nutzer: Die größten Spiele Ultima Online, Asheron's Call und Everquest kommen zusammen auf etwa 700.000 Spieler. Die jetzt in den USA startende Version von Lineage hat jedoch einen Diskurs über Realität in Onlinespielen angeregt, der sich - wie der exemplarische Auftakt in Time - in altbekannten Bahnen bewegt.

Seit Jahren wird mit demselben naiven Verständnis von Wirklichkeit die "virtuelle Realität" diskutiert. Bei der Kritik klingt bis heute ein unterschwelliger Rekurs auf Platons Höhlengleichnis mit: Der Spieler, durch die Stricke eines überwältigenden Sinneseindrucks gefesselt, könne im Spiel nur verzerrte Schattenbilder statt der Wirklichkeit selbst erfahren. Doch die graphischen, dreidimensionalen Welten von Ultima Online und Lineage stehen in einer ästhetischen Tradition, auf die Platons Gleichnis nicht anzuwenden ist.

Der US-Wissenschafter Lev Manovich hat jüngst im Buch The Language of New Media zwei ästhetische Traditionen zur Kategorisierung - vermeintlich neuer - visueller Strategien herausgearbeitet:

Zum einen die Tradition der Repräsentationen, in der Gemälde, Film und Fernsehen stehen. Hier sind die Bilder extrem mobil, können in unterschiedlichen Kontexten rezipiert werden. Die Präsentation verlangt jedoch einen gefesselten, immobilen Betrachter - im Kinosaal, vor dem Fernsehschirm, in der Galerie.

Die Tradition der Simulation verkehrt dieses Verhältnis. Fresken und Wandgemälde sind an einen Ort gebunden, sind erst durch die Bewegung ihrer Betrachter erfahrbar. So ist es auch bei Onlinespielen, wenn der Begriff des Ortes und Körpers erweitert wird. Der Rezipient bewegt seinen Spielkörper - in Anlehnung an die Herkunft einer Gottheit im Hinduismus "Avatar" genannt - durch den Spielort, der erst durch ebendiese Bewegung entsteht. Die Mobilität des Spielers ist Bedingung für die Existenz des Werkes.

Doch ist das real? Diese Fragestellung bestimmt derzeit die Rezensionen. "Realitätsverlust gefällig?", wird ein Artikel über das jetzt in den USA gestartete Onlinespiel Majestic überschrieben. Dabei erzwingt gerade dieses Spiel eine neue Auseinandersetzung mit dem Realitätsbegriff.

Verschwörer im Netz

Das Ziel der Majestic-Spieler ist die Aufdeckung einer großen Verschwörung - seit Jahrzehnten werden in Konspirationstheorien mit dem Begriff "Majestic" geheime Weltregierungen, Nachrichtendienste oder UFO-Projekte bezeichnet. Ähnlich wie in der TV-Serie Akte X spaltet Majestic also das Thema einer allumfassenden Verschwörung in zahlreiche episodische Fragmente auf.

Über Telefon, E-Mail und Fax kontaktiert das Spiel seine Spieler, man hebt ab und hört vielleicht eine Frau in Todesangst um Hilfe flehen. Dies könnte, ebenso wie die fingierten Internetseiten mit Informationen zu dem Spiel - zum Beispiel die der Malta UFO Research -, als Eindringen des Spiels in die Wirklichkeit gewertet werden. Umgekehrt machen aber erst die zahlreichen privaten Seiten im Netz, auf denen Spieler ihre realen Erfahrungen austauschen und die Erzählung weiterspinnen, das Spiel zu einem Spiel. Hier wird deutlich, was in der Kommunikationswissenschaft schon ein alter Hut ist: Der Rezipient konstituiert die Botschaft mindestens ebenso sehr wie ihr Sender.

Den klügste Satz über den Begriff der Wirklichkeit virtueller Realitäten und Spielwelten schrieb 1991 Neal Stephenson in seinem Roman Snow Crash: "Real estate acumen does not always extend across universes." Wie leicht es fällt, das falsch zu verstehen: Weil ihr Scharfsinn beim Immobilienerwerb in der "realen" Welt nur zu einem schäbigen Apartment reicht, flüchten Menschen sich bei Stephenson in eine "nicht reale" Welt, um dort in prunkvollen Anwesen zu residieren.

Aber wer genau liest, bemerkt, dass Stephenson von zwei Universen spricht, ohne ein Merkmal zu deren Unterscheidung anzubieten. Scharfsinn im Immobiliengeschäft ist in beiden real, nur eben nicht immer aus dem einen ins andere zu übertragen.

Die Realität von Onlinespielen entsteht durch Kommunikation. Das zeigte sich schon bei dem ersten Spiel dieser Art, dem 1978 an der Universität Essex in Großbritannien gestarteten MUDI. Die Spieler streiften hier als Abenteurer durch eine klassische Fantasywelt. Doch eine strikte Unterscheidung zwischen Spielcharakter und dem "realen" Spieler bestand kaum. Es war für die Avatare ebenso legitim, sich über Ärger am Arbeitsplatz des Spielers wie über Drachen, Schätze und Verliese in der MUD-Welt zu unterhalten.

Große Maskerade

Der Kern von MUD1 war das Spiel mit sozialen Rollen, nicht die Suche nach Schätzen. Männer konnten Frauen spielen und Frauen Männer, Draufgänger konnten Intellektuelle sein, Mauerblümchen zu Helden werden. Spieler waren mit verschiedenen Avataren zugleich anwesend.

Rollen sind durch die Erwartungen anderer Menschen vorausbestimmt, in der Soziologie wird also zwischen dem "me", d.h. der Summe der Fremderwartungen an die eigene Person, und dem "I", der Reaktion des Individuums auf diese Erwartungen, unterschieden. In den Welten von Onlinerollenspielen kann jederzeit ein neues "I" erschaffen werden, an das andere Spieler zunächst keine Erwartungen richten können, da sie nichts über die neue Persönlichkeit und ihre Rolle wissen.

Die Spielwelt ermöglicht es, weit bewusster als im Alltag Rollen (und mit Rollen) zu spielen. Ansonsten aber ist die Spielwirklichkeit definiert wie jede andere: als das Ergebnis symbolisch vermittelter sozialer Interaktion.

Das einzige Merkmal zur Unterscheidung der Wirklichkeit eines Onlinespiels von jener der Welt ist Distanz. Jene Distanz, die durch die absolute Kontrolle des Spielers über seine sozialen Identitäten entsteht. Er kann seinen Avatar aufgeben und mittels anderer die Welt erfahren.

Es wäre ein alter Fehler, diese besondere Distanz nun als Flucht aus der Wirklichkeit zu verstehen. Schon Georg Simmel schrieb 1903 in Die Großstädte und das Geistesleben von der positiven Distanziertheit der Großstadtmenschen zu ihrer Umwelt. Dadurch seien Individualisierungschancen und die Möglichkeit einer ästhetischen Stadterfahrung gegeben. Die Distanz der Onlinespiele könnte ähnlich positive Möglichkeiten eröffnen:

Nämlich die Flucht aus dem "Terror der Intimität", den der US-Soziologe Richard Sennett gegeben sieht. Die Flucht aus der ständigen Repräsentation von Nähe mittels mediatisierter Intimität (etwa in Reality-Fernsehformaten) hin zu einer Simulation, in der Nähe durch die Möglichkeit von Distanz entsteht. Eskapismus revisited gewissermaßen.

©Der Standard

Unser Kommentar: In andere Rollen, andere Identitäten zu schlüpfen, ist scheinbar ein Grundbedürfnis des Menschen. In der Kindheit beginnt das mit "Mutter - Vater - Kind" - Spielen; wenn Sie erfahren wollen, wie ihre Kinder Sie als Eltern erleben, achten Sie darauf, wie diese Spiele gestaltet werden. Spielen ist "Probehandeln" - "ich tät' die Mutter sein" - und dabei werden neue Rollen eingeübt, in einem geschützten Raum, ohne zu befürchtende Konsequenzen und immer im Wissen aller Beteiligter, dass es "ja nur ein Spiel" ist.

Das Internet bietet eine völlig neue Dimension für diese Spiele. Sherry Turkle hat dies in ihrem Buch meisterhaft beschrieben. Die Auseinandersetzung mit anderen Rollen, das Ablegen der eigenen Position im Spiel wird auch zu therapeutischen Zwecken eingesetzt, mit Kindern wie mit Erwachsenen - und das funktioniert in der "Realität" wie offenbar auch in der "virtuellen Realität".Wesentlich dabei scheint in beiden Fällen, die beiden "Welten" auseinanderzuhalten.

G. Kral/Zentrum Rodaun

 

Literatur zum Thema:

Lev Manovich: The Language of New Media. Bestellmöglichkeit bei amazon.at!

Neal Stephenson: Snow Crash . Bestellmöglichkeit bei amazon.at!

Sherry Turkle: Leben im Netz - Identität in Zeiten des Internet. Bestellmöglichkeit bei amazon.at!

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