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Die Schule gehört uns - erobern wir sie uns zurück!

Ein Plädoyer für mehr Mitbestimmung, Mitbeteiligung und Demokratie

 

Von Peter Felixberger

Die Schulen verschlafen die Zukunft. Nach wie vor trichtern sie unseren Kindern Wissen ein bis zum Umfallen. Und machen sie gefügig. Nur wer schluckt und schluckt und schluckt, kommt später weiter. Für Peter Felixberger gibt es nur einen Weg aus der Misere: von der Belehrungsschule zur Ausprobierschule mit tausend Möglichkeitsräumen. Erziehung heißt, Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu helfen, ihre Möglichkeiten zu realisieren. Nicht nur in der Schulkathedrale, sondern in Nischen, Projekten und Organisationen. Kurzum: an Orten, wo das Leben tobt. Nehmen wir nur ein x-beliebiges Gymnasium irgendwo in Bayern, wo das Abitur republikweit noch am schwersten ist, die Schüler nicht mehr ganz so sittsam, jedoch weiterhin gebetsmühlenartig Sinuskurven und Ablativus absolutus eingetrichtert bekommen, und wo die Lehrer bisweilen treuherzig bis treudoof den Lehrplan als Monstranz vor sich hertragen: Eine gewisse bleierne Schwere hat sich seit vielen Jahren dort eingenistet. Lehrer und Schüler erleben tagtäglich die unerträgliche Ausweglosigkeit des bizarren Pauksystems einer 0-Fehler-Kultur. Manchmal Hand in Hand, oft genug Faust um Faust in der Hosentasche. Und sowieso ist es ein Jammer, wie viele Lateinopfer immer noch ins Gras beißen und ihre hoffnungsvollen Talente fürderhin brach liegen lassen müssen. Verzweifelte Eltern fragen: Wie lange noch?

Kontrolle, Übersichtlichkeit und Sicherheit

Im letzten Jahrhundert war alles anders. Lehr- waren schließlich keine Herrenjahre. "Wir lernen alles weg, was uns vorgesetzt wird", galt als bärenstark. Vollgefressen waren wir dann irgendwann erwachsen. Herr und Frau Lehrer(in) begleiteten uns auf diesem Weg als unumstößliche Autoritäten, deren Erziehungsideal in der Vorbereitung auf eine reibungslose Eingliederung ist das bundesrepublikanische Industriemodell bestand. Die Schule als Ausgangspunkt einer linear ansteigenden Lebensstrecke mit Arbeitsplatzgarantie und am Ziel mit kleiner Rente. Die Karriere war genauso vorprogrammiert wie der beginnende Freizeitfeudalismus der Deutschen. Sitzenbleiber hatten Erfolg nicht verdient und Abgestürzte landeten in den bekannten Aufbewahrungsanstalten für abweichendes Verhalten. Das Ergebnis war ein in sich geschlossenes System der Kontrolle, Übersichtlichkeit und Sicherheit. Schule war ein verlässlicher Partner für die Anpassung an die Erfordernisse gesellschaftlicher Entwicklung, jedoch keineswegs für die persönliche Entfaltung. Und was Wissen und Lernen betrifft: Davon war noch nicht so viel vorhanden, als dass es nicht bequem in übersichtlichen Ausschnitten serviert werden konnte. Damals in den 70ern galten selbst Hirnreizversuche bei Hühnern noch als experimentelle Selbstverständlichkeit in der Schulbiologie, Elektronen schwebten sauber aufgeräumt um den Atomkern und im Englischunterricht konzentrierte man sich hauptsächlich auf die imperialen Abenteuer der Engländer in der Weltgeschichte. Wer Wissen anhäufte, galt als gebildet bis hin zur Allgemeinen Hochschulreife. Dann ging man auf die Universität, wo der Wissensberg noch höher wurde, bevor man diesen im beruflichen Alltag abtragen durfte. Alle Regeln und Normen waren irgendwie aufeinander abgestimmt, und das Schöne dabei: Die Akteure glaubten, trotz heftiger Autoritäts- und Herrschaftskrisen, an das konsistente Auftürmen von Wissensbausteinen. Je standfester das spätere Mauerwerk, umso besser konnte man sich und sein Unternehmen einigermaßen am Laufen halten.

Kreuzworträtselwissen statt Vorbereitung aufs Leben

Für diese Wissensanhäufung wurden in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts viele der heutigen Schulkathedralen gebaut. Landauf, landab begegnet man heute noch dieser funktionalen Würfelarchitektur. Doch der Putz bröckelt, die Resopalästhetik wird zum Ärgernis: Die Schulgebäude sind längst marode. Dringend anstehende Renovierungen werden auf die lange Bank geschoben. Der Staat hat überdies keine Kohle, um in dringend benötigte neue Lehrerstellen sowie in Lehr- und Lernmittel zu investieren. Das System der Gesellschaftsagentur Schule scheint ideologisch und architektonisch jenen Teil eines Ancien Régimes zu repräsentieren, der sich immer mehr aufzulösen scheint, aber in weiten Teilen noch krampfhaft ums Fortbestehen ringt. Man verwaltet die Krise. "Insgesamt muss am Ende dieses Jahrhunderts resümiert werden: Schule zeigt über alle Zeiten hinweg eine starke Tendenz zurück in Richtung Buch-, Tafel- und Belehrungsschule, in der Fächer in Stundentakten unterrichtet werden und in denen Schüler vor allem zuhörend (oder sich langweilend) sitzen, in denen Wissen überwiegend verbal nach dem Vorbild des Nürnberger Trichters vermittelt, später wieder abgefragt und dann per Noten bewertet wird", diagnostizieren Peter Struck und Ingo Würfel. Das gilt bis heute auch und besonders für die Primärschulen. Schon dort wird "spezifisches, abprüfbares Informationsgut" vermittelt, das die Kinder im Kopf behalten müssen. Nur keine Fehler machen, wenn es von dort wieder heraus muss. Mangelhaft und ungenügend führen etwas später bereits zur Ehrenrunde, die stupide Formel lautet von Anfang an: So lange wiederholen, bis es sitzt. Verzweifelt halten sozialdemokratisch regierte Bundesländer mit Orientierungsstufen und A-B-C-Kurshierarchien entgegen. Der Stoff wird hie wie dort so unverfänglich mundgerecht serviert, ohne dass sich Schüler selbst anstrengen müssen - außer natürlich das Tafelbild abschreiben und zu Hause das Kurzzeitgedächtnis trainieren. Es herrscht (noch) der Wille des Lehrplans und seines Dompteurs, dem Lehrer.

Oberstes Gebot: fügsam, unspontan und passiv

Welche fatalen Folgen dies hat, ahnte der Sozialpsychologe Erich Fromm schon vor knapp 30 Jahren: "Sie schaffen sich eine ganze Welt aus Papierschnitzeln, Holz, Steinen, Stühlen und praktisch allem, was ihnen in die Hände kommt. Aber mit etwa sechs Jahren, wenn sie in die Erziehungsmühle geraten, werden sie fügsam, unspontan und passiv, und sie verlangen nach Stimulationen, bei denen sie selbst passiv bleiben können und nur zu reagieren brauchen." Im Mittelpunkt dieses starren institutionellen Zwangsapparates steht der Lehrer. Diese Spezies wird, gleich den Methoden, die sie anwendet, immer älter, während die jungen Kollegen arbeitslos gehalten werden. Gerade einmal vier Prozent aller Lehrer in Grundschulen sind jünger als 30 Jahre. Die 40- bis 60-jährigen dominieren mit knapp 60 Prozent das Lehrerzimmer. Noch schlimmer die Situation in Sekundarschulen: zwei Prozent unter 30, 80 Prozent zwischen 40 und 60. In den USA sind im Vergleich doppelt so viele Lehrer unter 40 Jahre alt, noch jünger sind die Lehrer nur noch in Großbritannien und der Schweiz. Deutsche Lehrer sind überdies ausgebrannter und überforderter denn je: Stress, Angst vor dem täglichen Martyrium Unterricht, kaum Unterstützung bei der dringend notwendigen Fortbildung. "Ich wünsche mir eine Fortbildung zum Thema Wie überstehe ich eine Unterrichtsstunde." Dieser Hilfeschrei einer jungen Lehrerin verpufft jedoch im Wildwuchs von Erörterungslagen über die Lehrerschaft. Der Volksmund betrachtet sie sowieso nur als Dauerurlauber oder faule Säcke, Eltern liegen im Dauerclinch wegen Unterrichtsausfall und unengagiertem Vorgehen und die Unternehmer beklagen den hoffnungslosen Leistungsstand deutscher Schüler im internationalen Vergleich. Die PISA-Studie hat Deutschlands Schüler sowieso an den Rand der Dummheit gerückt.

Orientierungslos im globalen Markt der Lebensformen

Die Schüler sind natürlich auch ein Kapitel für sich. Vielfach allein gelassen von den Eltern driften sie haltungsloser in eine zusätzliche Unruhe, die nicht leistungsfördernd ist. "Schüler werden als verhaltensgestört, lernschwierig, gewalttätig, süchtig oder krank beschrieben." Und was sie dann an langweiligem und weltfremdem Unterricht geboten bekommen, erhöht mangels zündender Begeisterung nur den Verwirrungskoeffizienten und die Unsicherheit. Hinzu kommt eine wachsende Orientierungslosigkeit im globalen Markt der Lebensformen. Nur ein starkes Ich kann darin bestehen. Dieses herauszubilden ist der ewige Knackpunkt in jeder Jugendbiographie. Wer es schafft, subjektive Fähigkeiten zu bilden, kann seine Orientierungsnöte mildern. Leider aber versuchen Jugendliche in Zeiten riskanter Freiheiten Sicherheit und Orientierung verstärkt durch Flucht vor der Freiheit zu gewinnen. "Statt der Bewältigung der Herausforderung durch einen Lernprozess mit Identitäts- und Kompetenzzuwächsen (Freiheit zu ...) wird nach Fluchtwegen (Freiheit von ...) gesucht: Gewalt und Destruktivität, Sucht, Fundamentalismus, Egozentrismus, Narzissmus, Autoritarismus, Konsumismus ...", schreibt Helmut Wehr. Fazit: Die heutige Regelschule will immer noch den angepassten Schüler, der ordentlich, diszipliniert und sorgfältig die Hände zur Lernaufnahme faltet, wenngleich die Entgrenzung von Wissenserwerb und Lebenswelt zunimmt. Im täglichen Memory-Spiel, das fast nur Sprach- und Buchwissen wiederkäut und abfragt, geht es nur noch ums Eintrichtern und danach ums schnelle Vergessen. Die einen können das besser, die anderen weniger gut.

Hauptschule - Angestellter, Gymnasium - Führungskraft

Wer es dann bis zum jeweiligen Schulabschluss geschafft hat, sitzt unverhofft in den "Vorzimmern zum Beschäftigungssystem". Je nach Notenprofil findet er jetzt Eingang in die Kontrollschächte der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Denn noch immer gilt der lineare Pfad der Ausbildungsmoderne: Universität, Promotion, Führungskraft - Hauptschule, Quali, Angestellter. Das Ancien Régime tut auch hier so, als ob die traditionellen Pfade bis zum Sankt-Nimmerleinstag konserviert werden könnten. Dieses Dogma bestimmt aber noch mehr: soziales Prestige, Anerkennung, Reichtumsverteilung und den Grad an persönlicher Freiheit. Die Hierarchie von Funktion, Zuständigkeit und Bankkonto ist Ausdruck dieser Ungleichheit. Früher schlug man sich klassenkämpferisch darüber, das Ancien Régime klammert sich noch heute daran. Die Schule erfüllt diesbezüglich nur mehr eine Selektionsfunktion und bedient damit die Planbarkeit zunächst in den weiterführenden Schulen und später im Arbeitsmarkt. Diese etwas verkürzt vorgetragene Bestandsaufnahme der Gesellschaftsagentur Schule ließe sich natürlich noch anreichern mit allerlei Diskussionsstoff: Gewalt an der Schule, vergiftetes Klima zwischen Reformern und Traditionalisten in der Lehrerschaft, die ideologischen Grabenkriege der Kultusminister und ihre jeweiligen Schulreformen als Stellungskrieg unter den Bundesländern. Wir wollen aber vielmehr das Augenmerk darauf richten, was der gesellschaftliche Wandel nach sich zieht. Sicher neue Anforderungen an die Schulen ebenso wie an die Menschen, die es betrifft: uns alle!

Schule? Was ist schon Schule? Wissen nistet an Millionen von Schauplätzen

In den Kernbereichen des Wissens- und Informationserwerbs ändern sich die Spielregeln derzeit von Grund auf. Das beginnt bereits bei der Quantität. Das Wissen der Menschheit verdoppelt sich schneller, als die Polizei erlaubt. Wer meint, sich dieses Wissen im universal gebildeten Sinne eintrichtern zu können, findet immer weniger Gehör. Denn heute stützt sich der Erwerb von Informationen auf die Kompetenz, sich diese in schnellstmöglicher Zeit zu beschaffen. Dies hängt wiederum damit zusammen, dass der eingeübte Transfer von Wissen nicht mehr wie früher stattfindet. Wissen nimmt längst nicht mehr nur Platz in den angestammten Speichern wie Bibliotheken. Es diffundiert, verlagert sich und nistet an Millionen von Schauplätzen und in Köpfen. Schule ist nur eine Örtlichkeit. Daher ist es müßig, darüber nachzudenken, wie man das gesamte Wissen der Menschheit in die Köpfe der Schüler bringt. Wichtig ist vielmehr, den Kopf ins Internet wie in die reale Welt gleichermaßen zu stecken. Dort schlummern Schulwissen und noch viel mehr. Ganz neue Techniken der Wissensbeschaffung beginnen sich mittlerweile darüber zu entfalten. Gesucht wird die richtige Information zur richtigen Zeit im gewünschten Zusammenhang an tausend verschiedenen Orten. Doch nicht nur Suchmaschinen im Internet sind auf dieser neuen Sammler-und-Jäger-Spurensuche (meist sehr einfältig übrigens), sondern auch Spezialisten, die sich die Wissensexplosion zunutze machen. Dies bedeutet einen Rollenwechsel auch für Lehrer. Der Lehrer der Zukunft ist Manager, Sozialarbeiter und Jobberater, mehr Lerntrainer als Stoffvermittler. Diese Aufgaben kann man nur im Team bewältigen. Die Zeit der Einzelkämpfer ist vorbei. Erziehen bedeutet in diesem Zusammenhang, dem Kind, dem Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu helfen, seine Möglichkeiten zu realisieren. Und das in einer Vielfalt von Nischen, Projekten, Ideen und neuen Organisationen. Das fängt beim Surfen im Internet an und endet in Malkursen oder Konversationspraktika in Business English.

Soziales Verantwortungsbewusstsein statt Mathe, Chemie, Latein

Diese Dezentralisierung der Lernwelten und das Autonomiebestreben in unübersichtlichen, überraschenden Aktions- und Denkräumen haben immense Auswirkungen. Denn im Zuge des Zerreißens gesellschaftlicher Homogenität in individualisierte Beliebigkeitskästchen braucht der Schüler von heute "keine Vermittlungsinstanz mehr, die auf das gesellschaftliche Leben vorbereitet, indem sie über dessen Strukturen informiert, auf seine Anforderungen hin Wissen vermittelt und die gesellschaftlich institutionalisierten Orientierungen und Verhaltensweisen einübt", schreibt der Soziologe Michael Brater. Das klare Zielsystem eines späteren Lebens ist nicht mehr vorhanden. Was folgt? Schule muss Räume bieten, um Erfahrungen machen zu können, sowie Praxisfelder zum Ausprobieren bereitstellen. Bestimmte Kulturtechniken und Wissensinhalte wie Mathematik, Chemie und Latein werden zwar noch toleriert, im Vordergrund stehen jedoch die "Ausbildung moralischer Grundhaltungen sowie soziales und ökologisches Verantwortungsbewusstsein ... Lernen soll wieder dort stattfinden, wo Leben stattfindet", so Brater. Eine solche Art Schule findet daher nicht mehr im herkömmlichen Klassenzimmer statt, sondern in "Echtsituationen" draußen, wo das Leben tobt.

Was wir brauchen? Die selbstbestimmte Schule!

Kurzum: Die morgige Regelschule will den neugierigen Schüler, der aus Eigeninteresse, engagiert und selbstbestimmt an vielen Lernorten gleichzeitig zu Werke ist. Im täglichen Discovery-Spiel, das unverfälscht an vielen Orten stattfindet, wird man zum selbständigen Arbeiten angestiftet. Ich wiederhole gerne noch einmal den möglichen ersten Schritt: die selbständige Schule. "Der Staat beschränkt sich auf Rahmenbedingungen, Pauschalzuweisungen und Evaluierung. Lehrer und Schüler, Eltern und lokale Akteure begreifen und betreiben die Schule als ihre gemeinsame Angelegenheit." Sagt der Publizist Warnfried Dettling. Der uns begeisternde Nebeneffekt: Seine Geschicke selbst in die Hand nehmen, mehr Mitbestimmung und Mitbeteiligung, mehr Demokratie im Sinne einer Wiederaneignung des öffentlichen Raumes durch die Bürger.

Wo ist diese Schule? Sachdienliche Hinweise werden gerne entgegengenommen.

 

Peter Felixberger ist Publizist und Geschäftsführer des Online-Magazins changeX (www.changeX.de). Wir danken für die freundliche Genehmigung der Redaktion von changeX, diesen interessanten und couragierten Beitrag auf unsere homepage zu stellen.

G. Kral/Zentrum Rodaun

 

Weitere Informationen zu diesem Themenbereich finden Sie in unseren Beiträgen

WHO-Studie: Schule macht Kinder krank

Die Schule bleibt im Gerede

Drohen mit und hoffen auf Schule

 


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