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Mama im Wunderland

von Simone Georgieva

Wenn Eltern an Schizophrenie, Depressionen oder anderen psychischen Störungen leiden, so bleiben Folgeerscheinungen für ihre Kinder nicht aus. Einerseits haben die Kinder ein erhöhtes Risiko selbst einmal psychisch zu erkranken, auf der anderen Seite wachsen sie unter Lebensumständen auf, die sehr belastend sein können. Teilweise können die außergewöhnlichen Anforderungen  Kinder in einer derartigen Situation überfordern, möglicherweise bieten die Umstände ihnen aber auch die Chance an den Aufgaben zu wachsen.

Ergebnisse mehrerer Studien belegen: Kinder, deren Eltern an einer psychischen Störung leiden, laufen erhöht Gefahr selbst einmal eine psychische Störung zu entwickeln. In Österreich gibt es laut Schätzungen rund 50.000 Kinder mit psychisch kranken Eltern. Aufgrund der Lebensumstände, in denen Kinder aufwachsen, ergeben sich eine Reihe psychischer und sozialer Belastungsfaktoren. Erkrankte Elternteile sind oftmals mit ihrer Elternrolle überfordert und es ist ihnen nicht möglich auf Bedürfnisse des Kindes ausreichend einzugehen. Kinder fühlen sich dann ungeliebt oder vernachlässigt. Sie können inkonsistente, oftmals unberechenbare Verhaltensweisen des erkrankten Elternteils nicht verstehen und einschätzen. Folglich entwickeln Kinder Ängste und Schuldgefühle, oder übernehmen eine ihrem Alter nicht entsprechende Verantwortung für die Familie. Nicht nur die erkrankten Personen selbst, sondern auch deren Angehörige benötigen Unterstützung. Für „erwachsene Angehörige“, wie z.B. Ehepartner gibt es mittlerweile eine Reihe begleitender, professioneller Beratungs- und  Hilfsangebote. Kindern hingegen wird in der „Psychiatrie der Erwachsenen“ oftmals nur wenig Beachtung geschenkt - Man spricht auch von den „vergessenen, kleinen Angehörigen“. Mittlerweile gibt es zumindest Bemühungen diese Versorgungslücke zu füllen und auch Kinder als wichtige Angehörige „wahr- und ernst zu nehmen“.

High Risk 

Die High Risk Forschung versucht Gruppen zu identifizieren, die ein erhöhtes Risiko für bestimmte Krankheiten aufweisen. Sie versucht Risikofaktoren zu bestimmen, die zu einem erhöhten Krankheitsrisiko führen und Schutzfaktoren aufzufinden, um präventive Maßnahmen ergreifen zu können. Nach diesem Forschungsansatz haben Kinder psychisch kranker Eltern, im Vergleich zu anderen Kindern ein um bis zu dreimal höheres Risiko selbst eine Störung zu entwickeln. Kinder von Angstpatienten sind sogar siebenfach gefährdeter eine Angststörung zu entwickeln, als Kinder gesunder Eltern. Einerseits führen genetische Komponenten  zu dem erhöhten Erkrankungsrisiko: Kinder erben eine genetische Anfälligkeit für eine bestimmte Störung und verschiedene Belastungsfaktoren, wie Stress, Frühgeburten, Traumata, körperliche Erkrankungen,…  können dann dazu beitragen, dass sich die Störung letztlich manifestiert, oder aber auch nicht.

Auf der anderen Seite hängt das  „Risikopotential“ von verschiedenen psychosozialen Faktoren, wie dem Eltern-Kind- Interaktionsstil, dem sozialen Umfeld, der Unterstützung durch den nicht erkrankten Elternteil, der Persönlichkeit des Kindes,… ab. Beispielsweise liegt das Risiko von Kindern schizophrener Eltern selbst eine Schizophrenie zu entwickeln zwischen zehn und fünfzehn Prozent (genetische Komponente). Das Risiko steigt auf 40% wenn zusätzlich beide Elternteile Schizophrenie haben (familiäres Umfeld). Eine psychische Erkrankung der Eltern wirkt sich bereits im Säuglingsalter nachteilig auf das Kind aus. In einer Studie wurden 354 Familien und ihre erstgeborenen Kinder untersucht: Man fand heraus, dass Säuglinge bereits im Alter von 3 Monaten verschiedene Auffälligkeiten aufweisen. Untersuchungen von zweijährigen Kleinkindern zeigten, dass sie sprachlich weniger entwickelt und sozial auffälliger sind  als Altersgenossen, deren Eltern gesund waren. Im Allgemeinen sind die Folgen, die sich für Kinder ergeben können, je nach Dauer, Art und Schwere der elterlichen Störung vielfältig:  z.B.: kognitive und emotionale Defizite, Angstzustände, selbstverletzendes Verhalten, Schlafstörungen, Aggressionen, … Generell lässt sich sagen, dass das Risiko umso größer für das Kind wird, je jünger es zum Zeitpunkt der Erkrankung des Elternteils ist.

Mama und Papa

Der Umgang mit einer psychischen Erkrankung kostet betroffene Personen zumeist per se sehr viel Kraft. Soll neben der Belastung durch die Krankheit auch der Rolle als Mama oder Papa nachgegangen werden, so fühlen sich Betroffene oftmals überfordert – 36 Prozent befragter Eltern geben an, dass sie keine ausreichende Unterstützung erfahren. Betroffenen ist es  nicht möglich der  Erziehung und Pflege des Kindes die notwendige Aufmerksamkeit zu schenken und auf Bedürfnisse des Kindes ausreichend einzugehen. Sie können nicht ausreichend Nähe zum Kind aufbauen und Liebe zeigen. Häufig entwickeln sich daraus Schuldgefühle als Elternteil zu versagen, der Familie zur Last zu fallen, oder auch aufgrund der Weitervererbung der Erkrankung an die Kinder. Der andere, meist gesunde Elternteil versucht meist kompensatorische Maßnahmen zu ergreifen und sich faktisch doppelt für das Kind einzusetzen. Gelegentlich stößt aber auch der Partner an seine Belastungsgrenzen, da er neben der doppelten Elternrolle zusätzlich auch Energien für den erkrankten Partner aufbringen muss. Manchen Berichten zufolge wird eine Partnerschaft auch nur den Kindern zuliebe aufrechterhalten, um diese nicht noch zusätzlich zu belasten. In seltenen Fällen leiden beide Elternteile an einer psychischen Störung. Zwar gibt es diesbezüglich noch kaum Untersuchungen, aber die Belastung und Folgen für Kinder müssen enorm sein.

... und wo finde ich bitte meine Identität?

Beziehungs- und Bindungsmuster gestalten sich in Familien unter diesen besonderen Umständen problematisch. Kinder erfahren zu wenig Zuwendung und Liebe. Ambivalente und inkonsistente Verhaltensweisen, Gedanken und Gefühle des erkrankten Elternteils geben Kindern nicht die nötige Konstanz und Sicherheit in der Eltern-Kind- Beziehung. Es ist schwer möglich sich auf den Elternteil verlassen und emotional einlassen zu können, wenn man nie so genau weiß „woran man gerade ist“. Einerseits kann das dazu führen, dass Kinder jeglichen Respekt verlieren und Eltern ihre Funktion als Vorbild und Autoritätsperson verlieren. Auf der anderen Seite können Kinder elterliche Funktionen übernehmen und die Rollen mischen sich. In der Entwicklung der eigenen Identität brauchen Kinder aber Vorbilder und Personen mit denen sie sich identifizieren können. Fehlen positive Vorbilder an denen sich ein Kind orientieren kann, so gestaltet sich die Suche nach der eigenen Identität schwierig, da es auf sich selbst gestellt ist.

Ich bin schuld!

Da Kinder inkonsistente und unberechenbare Verhaltensweisen erkrankter Elternteile oftmals nicht verstehen und einschätzen können, suchen sie die Schuld, dass Mama oder Papa sich so verhält bei sich selbst. Sie denken eher, dass mit ihnen selbst etwas nicht stimme, als mit dem Elternteil. Aufgrund der egozentrischen Weltanschauung denken besonders kleinere Kinder an der Entstehung der Erkrankung schuld zu sein, weil sie z. B. nicht brav genug waren. Ältere Kinder entwickeln Wut auf den Elternteil, was wiederum zu Schuldgefühlen führt, solche Empfindungen gegenüber einem geschwächten Familienmitglied überhaupt zu haben.

Du machst mir Angst...

Eine Folgeerscheinung für die meisten Kinder ist bei nahezu allen elterlichen, psychischen Störungen eine erhöhte Ängstlichkeit. Kinder fürchten sich vor dem erkrankten Elternteil, wenn  sie Verhaltensweisen z.B. nicht verstehen können, oder sich die eigene Wahrnehmung von jener der Eltern unterscheidet. Wenn Mama z.B. mit nicht vorhandenen Personen spricht, so kann das schon sehr beängstigend sein. Wenn das Kind sich noch nicht ausreichend von der Wahrnehmung des erkrankten Elternteils abgrenzen kann, so besteht die Gefahr, dass es in die Fantasiewelt mit hineingezogen wird, was wiederum das Erkrankungsrisiko erhöht. Laut einem Fallbericht weigerte sich beispielsweise ein Mädchen im Kindergarten seine Zähne zu putzen, da die Zahnpasta, laut Angaben der schizophrenen Mutter vergiftet sei. Kinder haben Angst um den erkrankten Elternteil und sorgen sich um ihn, besonders wenn Suiziddrohungen- und versuche hinzukommen Kinder fürchten sich auch davor selbst zu erkranken und einen ähnlichen Leidensweg, wie ihre Eltern vor sich zu haben.

Du bist ich und ich bin du

Rollenumkehr oder Parentifizierung bedeutet, dass sich die Verteilung der Eltern-Kind-Rolle umkehrt. Es kommt zu einer Verschiebung der Verantwortung auf das Kind und Kinder übernehmen Funktionen, die eigentlich die Eltern erfüllen sollten. Kinder tragen Verantwortung für die gesamte Familie und halten sie zusammen. Sie kümmern sich um jüngere Geschwister und  unterstützen den kranken Elternteil, der in ein Kindheitsstadium zurück fällt. Eltern werden unselbständig, lassen sich bekümmern etc., was für eine Genesung eher hinderlich als förderlich ist. Die Rollen stehen faktisch auf dem Kopf. Kinder wirken oftmals sehr erwachsen, vernünftig und „altklug“. Sie zeichnen sich in der Schule häufig durch überdurchschnittliche Noten aus, da sie denken besonders stark sein zu müssen.

Flügge werden

Kinder psychisch kranker Eltern sind nicht selten soziale Außenseiter, da sie sich entweder selbst von anderen abgrenzen, da sie merken, dass bei ihnen etwas anders ist, oder aufgrund fehlender sozialer Kompetenzen. Auf der anderen Seite rücken Familien aufgrund der Situation, besonders eng zusammen und isolieren sich, oder der erkrankte Elternteil hat Schwierigkeiten das Kind loszulassen und klammert stark. Diese Umstände erschweren Kindern, wenn sie erwachsen werden, die Loslösung von der Ursprungfamilie. Kinder fühlen sich stark an ihre Familien gebunden und ihnen gegenüber verpflichtet. Wenn Jugendliche sich vom Elternhaus distanzieren und ihren Wünschen nach Autonomie und Selbstverwirklichung nachgehen möchten, geraten sie in einen unentwegten Loyalitätskonflikt. Dies kann dazu führen, dass eigene Bedürfnissen hinten angestellt werden und die jungen Erwachsenen zu Hause bleiben und nicht ausziehen, um ihre Familie weiterhin zu unterstützen. Gerade in dieser Situation ist ein soziales Netzwerk außerhalb der Familie wichtig und hilfreich. Dieses fehlt aber aus genannten Gründen häufig. Der Loyalitätskonflikt kann oft Jahre dauern und die Loslösung von der Familie ist nur unter starken Gewissenskonflikten und großer Kraftanstrengung möglich.

Vergessene  kleine Angehörige

Gerade Kinder brauchen unter schwierigen Lebensumständen, wie es das Zusammenleben mit einem psychisch kranken Elternteil darstellt, Unterstützung.  Als Angehörige erfahren sie aber relativ wenig Beachtung. Diese wird ihnen zumeist erst dann zu teil, wenn sie bereits selbst Auffälligkeiten aufweisen.  Während für erwachsene Angehörige hinsichtlich Beratung und Unterstützung ein professionelles Angebot besteht, werden Kinder als Angehörige scheinbar gerne „großzügig“ übersehen. Besonders Kinder haben ein Bedürfnis nach Aufklärung und Unterstützung und wollen mit ihren Ängsten und Gefühlen nicht alleine gelassen werden. In jüngster Zeit fand ein Umdenken statt und Kinder werden als Angehörige vermehrt wahrgenommen und ernstgenommen. Das Angebot an Einrichtungen, die Beratung und  Begleitung speziell für Kinder anbieten ist aber noch mehr als ausbaufähig.

Sprechen statt Schweigen

Aufklärung über die elterliche Erkrankung steht bei den präventiven Maßnahmen an oberster Stelle. Die Verantwortung liegt hierbei in der Hand des behandelnden Psychiaters, oder Psychotherapeuten, sowie bei den Eltern. Wenn Kinder nicht „kindgerecht“ aufgeklärt werden, besteht die Gefahr, dass sich Sorgen und Fantasien verselbständigen und irreale Ängste wachsen. Ein Fehler ist es die Erkrankung in der Familie zum Tabuthema zu erklären, denn das Kind sollte mit seinen Befürchtungen nicht alleine gelassen werden und sich trauen Fragen zu stellen und offen über Gefühle sprechen können. Spezielle Kinderbücher bieten eine gute Möglichkeit um sich mit dem Thema Krankheit auseinanderzusetzen. Bücher können Kinder unterstützen und seelische und emotionale Erleichterung schaffen. Geschwister und Gleichaltrige sind hilfreich, um sich verstanden zu fühlen und austauschen zu können, sowie außenstehende Personen, die das Kind emotional unterstützen und ihm außerhalb der Familie Halt geben. Besonders im frühen Erwachsenenalter ist, wie bereits erwähnt ein soziales, tragfähiges Netzwerk außerhalb der Familie hilfreich, im Sinne eines gelungenen Abnabelungsprozesses von der Ursprungsfamilie. Wenn Kinder psychisch kranker Eltern ausreichend Unterstützung seitens der Familie, der Angehörigen und von Fachleuten erfahren, so  haben sie gute Chancen auf eine gelungene Entwicklung. Abschließend soll noch festgehalten werden, dass sich für die Mehrzahl der Kinder mit  psychisch kranken Eltern keine schwerwiegenden Folgen ergeben. Die außergewöhnlichen Lebensumstände können auch dazu beitragen, dass Kinder  besondere Stärken entwickeln und möglicherweise an ihren Aufgaben wachsen.

Quelle: FH St. Pölten, Universität Siegen

 

 

Unser Kommentar: Obwohl psychische Erkrankungen im Zunehmen sind, scheinen in der breiten Öffentlichkeit oftmals noch die Offenheit und das Verständnis gegenüber psychischen Störungen zu fehlen. Während körperliche Erkrankungen auf Akzeptanz und Mitgefühl stoßen, sind psychisch Erkrankungen häufig noch mit Klischees, wie „verrückt“, oder „abnormal“ behaftet. Es ist dann wenig verwunderlich, wenn Familien sich isolieren, oder isoliert werden und Kinder zu Außenseitern werden. Auch seitens der Ämter scheint die Akzeptanz, psychische Erkrankung auch als solche anzuerkennen, noch zu fehlen. Dies spiegelt sich nicht zuletzt in der mangelnden Unterstützung betroffener Familien wieder. Es ist aber aufgrund der zunehmenden Zahlen psychischer Erkrankungen höchste Zeit umzudenken. Denn Kinder und Familien in einer solchen Situation brauchen dringend Unterstützung und es gilt seitens der Ämter aktiver zu werden und das Hilfsangebot auszubauen, um Auswirkungen für Kinder so gering wie möglich zu halten. Auch behandelnde Ärzte, Lehrer, Bekannte, Freunde… sollten nicht wegschauen, sondern versuchen Familien zu unterstützen und zu helfen. Denn letztlich wollen auch psychisch kranke Eltern für ihre Kinder einfach nur „gute Eltern“ sein.

Simone Georgieva/Zentrum Rodaun

 

 

Literaturtipps:

Brigitte Minne: Eichhörnchenzeit oder Der Zoo in Mamas Kopf. Bestellmöglichkeit bei amazon.at!

Fritz Mattejat, Beate Lisofsky: Nicht von schlechten Eltern: Kinder psychisch Kranker. Bestellmöglichkeit bei amazon.at!

Kirsten Boje, Philip Waechter: Mit Kindern redet ja keiner: Reden ist wichtig. Bestellmöglichkeit bei amazon.at!

Manfred Pretis, Aleksandra Dimova: Frühförderung mit Kindern psychisch kranker Eltern. Bestellmöglichkeit bei amazon.at!

Weitere Informationen zu diesem Themenbereich finden Sie in unseren Beiträgen

Die Angst geht um - Panik als Familienerbe

Krise nach dem ersten Schrei

 


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